Die Geburtshelferin

9. October 2023

Hannah Fiegenschuh ist Wine Consultant. Ihr Job: Gütern helfen, grosse Weine zu machen. Porträt des spannendsten Berufs, von dem Sie noch nie gehört haben.

Was macht eigentlich ein Wine Consultant? Jetzt gerade steht Hannah Fiegenschuh in einem Rebberg in Saint-Emilion und macht sich Gedanken über den Wendekreis von Jean-Lucs Traktor. Es ist nämlich so: Über die nächsten Jahre soll hier eine Parzelle ausgerissen und neu bestockt werden. Dabei werden die Rebzeilen ihre Ausrichtung ändern – im Hinblick auf den Klimawandel hängen die Trauben aktuell zu sehr an der Sonne. Nur: Bisher konnte Jean-Luc, der Rebarbeiter, von der Strasse aus immer einfach rechts in die Parzelle abbiegen. Mit der neuen Ausrichtung klappt das nicht mehr, da wird sein Trecker mehr Platz zum Ausholen brauchen. «Hier am Rand werden wir eine Rebzeile verlieren», stellt Hannah fest.

Kein Pappenstiel: Wir befinden uns auf einem Grand Cru in einer Renommier-Appellation von Bordeaux, da kostet der Hektar Rebland schnell mal 300000 bis eine Million Euro. Aber nützt ja nix. Hannah notiert sich, die Frage mit dem Besitzer zu besprechen, und weiter geht’s. Hauptsächlich ist sie heute da, um zu schauen, wie es um den Austrieb der Reben steht. Doch am Ende ihres Rundgangs haben sie und Jean-Luc ein ganzes Sammelsurium an Themen gestreift: Wo sollte er am besten mit dem Anbinden der Fruchtruten beginnen? Die Reben da hinten, die bald umgepfropft werden, hat er genügend Man-power, um die Pflanzen dafür zu präparieren? Was hält er davon, am Ende der Zeilen Rosenstöcke zu pflanzen? Und wer gewinnt Sonntagabend im Fussball, Frankreich oder England? Ein Stündchen dauert der Check-in, dann verstaut Hannah ihre Rebschere und Arbeitsschuhe wieder im Kofferraum.

Zurück geht’s ins Büro – a.k.a. «der Ort, wo ich am wenigsten Zeit verbringe». Seit zwölf Jahren ist Hannah Teil der Firma Derenoncourt Consultants. Der Nordfranzose Stéphane Derenoncourt kam vor 40 Jahren mit Dreadlocks und Gitarre nach Bordeaux und verliebte sich dort in den Wein. Dass er kompletter Autodidakt war, hielt ihn nicht davon ab, ab den 1990ern seine eigene Philosophie des Weinmachens zu propagieren – weg von konzentrierten, überholzten Muskeltropfen, hin zu Terroirausdruck, Frische und Eleganz. Seine unverblümte Art rüttelte die etablierte Szene auf. Heute gehört er zu den ganz grossen Namen von Bordeaux, sein Beratungsunternehmen beschäftigt zehn Consultants.

Wie lernt man den Job des Wine Consultants? «Im ersten Jahr war ich eigentlich nur Beobachterin. Man läuft mit, observiert, lernt, aber entscheidet nicht selbst. Die Lernkurve ist extrem steil: Wir sehen so viele verschiedene Dinge, müssen uns an so viele Gegebenheiten anpassen – so lernt man schwimmen.» Auch später arbeiten die Consultants bei Derenoncourt stets im Zweierteam. «Vier Augen und zwei Nasen sehen einfach mehr». Hannah stellt ihre Sache ab, greift sich drei unetikettierte Flaschen sowie Gläser und Spucknäpfe und ruft zusammen mit ihrem Kollegen Romain per Facetime ihren kroatischen Kunden an. Wine Consulting geht also auch so. «Die Corona-Zeit hat uns zum Glück gezeigt, dass wir nicht für jede Kleinigkeit in ein Flugzeug steigen müssen.», so Hannah Fliegenschuh.

Insgesamt begleitet Hannah Fiegenschuh rund 25 Betriebe – in Bordeaux, der Provence und Châteauneuf-du-Pape, in Kroatien und Israel, die Hofkellerei des Fürsten von Liechtenstein und ein Schaumweinprojekt in Südengland. In vielen Betrieben trifft Hannah auf extrem gut ausgebildetes Personal, ein Aspekt, den sie sehr schätzt: «Je mehr wir sind, desto schlauer werden wir.»

Was Hannah an ihrem Beruf am meisten liebt: «Meine Rolle ist ganzheitlich, sehr spontan und sehr abwechslungsreich. Es ist ein Job mit extrem wenig Routine.» 45 Prozent ihrer Arbeitszeit ist sie auf Reisen. «Mein Kalender ist von der Natur bestimmt. Vor allem während der Ernte bin ich kaum zuhause. Aber ich könnte mir auch nicht vorstellen, dann im Liegestuhl zu liegen! Wenn Du einen Beruf mit so viel Leidenschaft machst, geht das nicht.»

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