Lokal gesucht!

26. Mai 2025

Ein feines Restaurant mit einem radikalen Ziel: So beschreiben Sie Ihr Refettorio in Genf. Was heisst das konkret?

Wir servieren mittags kreative und nach­haltige Fine-Dining-Gerichte zu marktüblichen Preisen für ein öffentliches Publikum – und verwandeln das Lokal abends in einen Raum der Würde und Integration. Sprich: Wir bieten kostenlos mehrgängige Menüs für Menschen an, die in prekären Verhältnissen leben. Geflüchtete, Obdachlose, Geringverdienende und andere vom System Verlassene … Beim Refettorio handelt es sich allerdings nicht um eine Suppenküche, sondern um ein kulinarisches und kulturelles Projekt, das die Grenzen zwischen Exzellenz und Solidarität neu auslotet. 

Ursprünglich ausgedacht hat sich das Ganze der italienische Dreisternekoch Massimo Bottura, zu dessen Netzwerk inzwischen 13 Refettori gehören – wobei Sie in Genf weitergehen als alle anderen.

Das stimmt. Als Massimo vor zehn Jahren das erste Refettorio lancierte, war das revolutionär. Und als ich 2020 mit meiner Version 2.0 auftauchte, muss das wie ein Komet im Weltall gewirkt haben: irgendwie vertraut, in Form und Intention aber disruptiv. Im Gegensatz zu den anderen Refettori führen wir unseres in Genf über Mittag als öffentliches Restaurant – und finanzieren mit dem Erlös abends die Mahlzeiten für Menschen in Not. Zudem binden wir das Restaurant ins lokale Ökosystem ein, arbeiten mit Produktionsbetrieben in der Umgebung zusammen, verarbeiten Überschüsse oder unverkaufte Lebensmittel. Massimo musste ich von dieser Ausgestaltung nicht über­zeugen; wir sprechen die gleiche Sprache, die Essen und sozialen Wandel verbindet.

Wie nahe stehen Sie und Massimo Bottura sich effektiv?

Früher habe ich ihn verehrt wie den Papst der modernen italienischen Küche. Heute habe ich seine Nummer. Wir haben uns mehrfach getroffen und auch schon gemeinsam gekocht. Einmal meinte er, ich sei zu rebellisch – und nannte mich «Walter, die Dampfwalze». Aber ich weiss, dass er das, was wir tun, schätzt. 

Nomade abseits der Norm
Der Mailänder Walter el Nagar (44) startete seine Karriere vor über 20 Jahren als Kellner in Grossbritannien, jobbte später als Panini-Bäcker in Mailand, absolvierte schliesslich die Ausbildung zum Koch. Er zog erst nach Norwegen, danach in die USA. In Los Angeles gründete er das Lokal The Barbershop, tourte ab 2016 mit einem Pop-up-Konzept auf dessen Basis durch die Welt, machte Halt in Barcelona, Ibiza, Tulum, Moskau, Singapur und Dubai. Als er 2017 in Genf landete, lancierte el Nagar mit Le Cinquième Jour sein erstes echtes Experiment in der Sozialgastronomie und fing in einem kleinen Rahmen an, kostenlose Mahlzeiten an bedürftige Menschen abzugeben. Im Jahr 2020 machte er den nächsten Schritt: Er gründete die Fondazione Mater und eröffnete das Refettorio Genf, das zum Netzwerk von Dreisternekoch Massimo Bottura gehört.  materfondazione.com

Was haben Sie seit der Eröffnung 2020 denn konkret erreicht?

Wir haben seither 40 000 Mahlzeiten aus überschüssigen Zutaten zubereitet, ein Netzwerk von Freiwilligen und Partnern aufgebaut und einen Ort kreiert, an dem sich die quasi unsichtbaren Genferinnen und Genfer willkommen fühlen. Darüber hinaus sind wir ein offiziell anerkanntes Zero-Food-Waste-Lokal und tragen als einziges Sozialrestaurant der Schweiz das Label Ama Terra von Fourchette verte. Neben der kulinarischen Mission haben wir das Refettorio also als Plattform für eine andere Art der Gastfreundschaft positioniert – eine, die dem Menschen und dem Planeten dient. 

Mit dem Refettorio üben Sie durchaus Kritik an der Gesellschaft.

Schauen Sie: Obwohl Genf zu den reichsten Städten der Welt gehört, leiden acht Prozent der Bevölkerung unter Ernährungsunsicherheit – während die Bürokratie das Recht auf Nahrung wie einen PR-Slogan behandelt. Und wo Schweigen, Stigmatisierung und Gleichgültigkeit vorherrschen, braucht es Konzepte wie das Refettorio. Wir zeigen damit, dass man Menschen mit Respekt ernähren und mit Kreativität nähren kann; nachhaltig, ohne Kompromisse. 

Woran denken Sie?

Ich bin überzeugt: Es ist an der Zeit, dass Köchinnen und Gastronomen ihr Recht einfordern, direkt in das Problem von Hunger und Unterernährung einzugreifen – und zwar nicht im Rahmen eines symbolischen Wohltätigkeitsevents einmal im Jahr, sondern durch ihre tägliche Arbeit. Unsere Branche verfügt über Instrumente, Räume und Wissen, mit dem sie der Gesellschaft über die Gewinnspanne hinaus dienen kann. Und seien wir ehrlich: Das aktuelle Hilfesystem mit Lebensmittelbanken und Gutscheinen et cetera ist veraltet und muss überarbeitet werden. Das Refettorio ist ein Teil dieser Neuausrichtung.

«Zürich bietet mir, was ich als Koch brauche: ein lebendiges Ökosystem!»
«Auf keinen Fall versteckt»: Das Zürcher Refettorio soll sich an zahlende Gäste ebenso wie an Bedürftige richten. Foto: FILIPPO L’ASTORINA

Nun wollen Sie auch in Zürich ein solches eröffnen. Warum ausgerechnet hier?

Als reiche Stadt mit wachsender Ungleichheit ist Zürich mit den gleichen Widersprüchen konfrontiert wie Genf. Es gibt sowohl Bedarf wie auch Potenzial – und entsprechend ist die Idee, hier ein nächstes Refettorio aufzubauen, eine logische Konsequenz. Zürich unterscheidet sich von Genf aber insofern, dass die Gastronomieszene lebendiger, moderner und experimenteller ist, die Kundschaft vielfältiger und neugieriger. Für mich ist das eine gute Nachricht, denn nach acht Jahren in Genf fange ich ehrlich gesagt an, mich ein wenig zu langweilen. Die kulinarische Szene hier ist bisweilen in der französischen Macho-Küche der Achtzigerjahre gefangen. Dahingegen bietet mir Zürich, was ich als Koch brauche: ein kreatives, lebendiges Ökosystem!

Aktuell sind Sie auf der Suche nach einem geeigneten Standort. Welche Kriterien muss er erfüllen?

Wir suchen einen zentral gelegenen Raum in Zürich, der gut sichtbar und zugänglich ist. Also auf keinen Fall versteckt! Abends wollen wir hier zahlende Gäste empfangen, tagsüber ein soziales Umfeld schaffen, in dem wir bedürftigen Menschen kostenlos mehrgängige Menüs servieren können. 

Bleibt die Frage der Finanzierung … 

Ganz klar: Das Refettorio ist kein gewinnorientiertes Projekt. Wir sind also auf einen Standort angewiesen, der erschwinglich ist, oder wir brauchen finanziellen Support. Schliesslich ist unser Ziel die Solidarität, nicht die Marge. Also ja, das ist ein Aufruf: Wer einen passenden Raum hat oder jemanden kennt, der einen hat, soll sich unbedingt melden! Wir sind bereit, einen solchen Standort mit Sinnhaftigkeit und Schönheit zu beleben. Denn Zürich braucht kein wei­teres Bistro – es braucht ein Refettorio!

Nächster Halt: Zürich!

Zurzeit läuft die Suche nach einem geeigneten Standort für ein Refettorio in Zürich. Um das Konzept vor Ort einem möglichst breiten Publikum bekanntzumachen, spielt das Team rund um Walter el Nagar auch mit dem Gedanken, ein Pop-up-Projekt zu lancieren. Updates und Informationen zum Stand der Dinge gibt es auf Instagram (@refettoriogeneva).

marmite professional 2/2025

Interview: Sarah Kohler

Fotos: ZVG

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